Der Mythos vom "Dickmacher Kohlenhydrate" - Warum Kohlenhydrate besser sind als ihr Ruf
- Marco Boss
- 21. März 2024
- 12 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 1. Dez. 2024

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Obwohl einige Leser bei diesem Thema vielleicht die Augen verdrehen mögen, handelt es sich bei der folgenden Erzählung um einen echten Dauerbrenner unter den Ernährungsmythen. Uralt wie die Dinosaurier und trotzdem nicht ausgestorben. Im Gegenteil. Auch heute ist er quicklebendig und erfreut sich bester Gesundheit. Worum geht es? In diesem Beitrag steht ein ganz bestimmter Baustein unserer Ernährung im Fokus: Kohlenhydrate! Na klar, was auch sonst! Kein anderer Nährstoff ist mit einem derart negativen Ruf behaftet wie diese einfache Verbindung aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff. Denn wie jeder halbwegs ernährungsbewusste Mensch weiß: Kohlenhydrate machen dick! Und nicht nur das. Besonders schlimm sollen sie sein, wenn sie am Abend konsumiert werden. Das ist doch allgemein bekannt, oder? Zumindest Onkel Uwe und Tante Inge sind sich ihrer Sache sicher. Die Mär vom Dickmacher Kohlenhydrate ist ein zeitloser Klassiker. Aber warum hat sich diese Einschätzung bis heute so fest in den Köpfen verankert? Ein Grund dafür liegt sicherlich in ihrer häufigen Behandlung in der Boulevardpresse. Die Geschichte vom vermeintlichen Übeltäter Kohlenhydrate wird immer wieder von verschiedenen Klatsch- und Tratsch-Zeitschriften aufgegriffen und in neuem Gewand präsentiert. Jedes Mal taucht sie mit einer anderen Verpackung auf, einer brandheißen Story, die erklärt, warum es doch besser ist, auf Kohlenhydrate und Co zu verzichten. Doch was macht Kohlenhydrate so einzigartig? Wieso werden sie so häufig für das Entstehen von Übergewicht und gescheiterte Diätversuche verantwortlich gemacht? Die Grundidee hinter der Annahme, dass der Verzehr von Kohlenhydraten am Abend zu einer Zunahme des Körperfettanteils oder zum Scheitern von Diätbemühungen führen könnte, basiert zunächst auf nachvollziehbaren Überlegungen. Da ein Großteil der Menschen in den Abendstunden eher körperlich inaktiv ist, könnten Kohlenhydrate als Hauptenergielieferant für den Körper in dieser Zeit überflüssig sein, da sie aufgrund des Mangels an Bewegung nicht effektiv verwertet werden können. Die Konsequenz: Überschüssige Kohlenhydrate werden in Form von Körperfett in die körpereigenen Energiespeicher überführt. Wenn dies zu häufig und in großem Umfang geschieht, können unerwünschte Fettpolster entstehen. Doch nicht nur in den Abendstunden gelten Kohlenhydrate als problematisch. Nein, Kohlenhydrate werden generell oft als Dickmacher stigmatisiert. Neben dem mangelnden körperlichen Aktivitätsniveau am Abend gibt es einen weiteren vermeintlichen Übeltäter: Insulin! Doch was hat es damit auf sich? Bevor ich mich diesem Thema widme, sollten zunächst die Grundmechanismen der Energieverwertung verstanden werden. Grundlegend ist das Prinzip des Energiestoffwechsels recht einfach. Wenn wir unserem Körper über die Nahrung mehr Energie zuführen, als wir durch Bewegung oder zur Aufrechterhaltung unserer Körperfunktionen verbrauchen, nehmen wir zu. Umgekehrt verlieren wir an Gewicht, wenn wir weniger Energie aufnehmen als wir verbrauchen. Die Energie wird in Kilojoule (kJ) oder Kilokalorien (kcal) gemessen. Halten sich Kalorienaufnahme und Kalorienverbrauch die Waage, spricht man von einer ausgeglichenen Kalorienbilanz. Eine negative Kalorienbilanz liegt vor, wenn die Energiezufuhr geringer ist als der Energieverbrauch, während eine positive Kalorienbilanz bedeutet, dass mehr Kalorien konsumiert werden, als durch Aktivität und körperliche Prozesse verbraucht werden. Ein Gewichtsanstieg infolge einer übermäßigen Kalorienzufuhr macht sich nicht sofort bemerkbar. Ebenso wenig wirst du durch einen einzigen Tag mit unzureichender Nahrungszufuhr sofort zur Bohnenstange. Entscheidend ist der langfristige Trend. Erst wenn über einen längeren Zeitraum hinweg ein Kalorienüberschuss besteht, setzen wir Körperfett an. Dabei spielt es keine Rolle, ob an einzelnen Tagen ein Kaloriendefizit vorliegt. Wenn man dieses Konzept auf einem Diagramm darstellt und eine Linie durch die einzelnen Datenpunkte zieht, zeigt die Linie im Falle eines Kalorienüberschusses deutlich nach oben. Man kann sich den menschlichen Organismus ähnlich wie eine Werkshalle vorstellen, in der ein Maschinenpark rund um die Uhr Bauteile produziert, Tag und Nacht. Tagsüber arbeiten mehr Arbeiter im Werk, was zu einer höheren Produktionsrate führt als in den Nachtschichten. Die Industrie hängt von den Bestellungen ihrer Kunden ab, und die Produktion sollte idealerweise auf die Kaufinteressen ihrer Abnehmer abgestimmt sein. Angebot und Nachfrage sollten im Gleichgewicht sein. Wenn die Produktion jedoch ständig über die Nachfrage hinaus gesteigert wird, füllen sich die Lagerbestände des Betriebs allmählich. Es kann vorkommen, dass an einzelnen Tagen weniger produziert wird, als von den Kunden bestellt wurde, was zu einem leichten Rückgang der Lagerbestände führt. In unserem fiktiven Betrieb wird jedoch hauptsächlich auf Vorrat produziert, und die Lagerbestände nehmen trotz gelegentlicher Entnahmen zu. Eine gewisse Lagerhaltung kann sinnvoll sein, aber wenn dauerhaft mehr Produkte hergestellt werden als nachgefragt werden, sind selbst die größten Lagerkapazitäten irgendwann ausgeschöpft. Dann wird es ungemütlich: Die fertigen Produkte stehen in der Werkshalle, blockieren die Arbeitsbereiche und stören den Betriebsablauf. Diese Analogie lässt sich auf den menschlichen Organismus übertragen: Wenn die Lagerkapazitäten überschritten sind (Kohlenhydratspeicher in Muskeln und Leber = Lagerflächen), führt dies zur Anhäufung von Körperfett (Fettdepots = verstopfte Werkshallen). Nach diesem kleinen Ausflug ins Reich der BWL möchte ich wieder zum Thema der Kohlenhydrate zurückkehren und ab hier das Insulin ins Spiel bringen. Die Aufnahme von Kohlenhydraten und Insulin sind eng miteinander verbunden. Nach dem Verzehr von Zucker oder Kohlenhydraten steigt der Blutzuckerspiegel an. Um den Blutzuckerspiegel wieder zu regulieren, schüttet die Bauchspeicheldrüse als Reaktion auf den Anstieg ein bestimmtes Hormon aus. Kannst du erraten, um welches Hormon es sich handelt? Richtig, um Insulin! Dieses Hormon fördert die Aufnahme von Zucker aus dem Blut in die Körperzellen, indem es an spezifische Insulinrezeptoren an den Zellen bindet und sie für die Aufnahme der verdauten Kohlenhydrate bzw. Zuckermoleküle öffnet. Dadurch sinkt der Blutzuckerspiegel wieder. Allerdings hat der Anstieg von Insulin im Blut auch eine unangenehme Konsequenz: Er hemmt vereinfacht gesagt die Fettverbrennung. Solange der Insulinspiegel hoch ist, können wir kein Körperfett abbauen. Überschüssige Fette und Kohlenhydrate werden stattdessen in den Fettzellen gespeichert – genau das, was wir vermeiden möchten. Somit scheint die Sache doch eindeutig zu sein: Am besten konsumiert man insgesamt möglichst geringe Mengen an Kohlenhydraten, da sonst ein Gewichtsanstieg droht. Aber ist die Realität wirklich so simpel? Es ist an der Zeit, die Fakten klarzustellen. Sicherlich ist die Insulintheorie nicht gänzlich falsch, aber sie ist zu oberflächlich. Betrachten wir dazu ein einfaches Beispiel: Angenommen, eine Person namens Mike hat einen täglichen Kalorienbedarf von 2000 kcal. Nehmen wir den unwahrscheinlichen Fall an, dass Mike jeden Tag Lebensmittel konsumiert, die fast ausschließlich aus Kohlenhydraten bestehen. Laut der Insulin-Theorie wäre Mikes Insulinspiegel kontinuierlich erhöht, sodass eine Fettverbrennung praktisch ausgeschlossen wäre. Doch wie war das noch gleich mit der Kalorienbilanz? Ist diese negativ, MUSS sich der Körper aus seinen eigenen Reserven bedienen. (Anm.: In diesem Beispiel wird davon ausgegangen, dass die Kalorienbilanz nach Berücksichtigung aller möglichen Faktoren wie des Energieverbrauchs nach Berücksichtigung des Ruheenergieverbrauchs, der Aktivität, des Energieverbrauchs bei Verdauung der Nahrung, des Energieverbrauch des Körpergewebes oder des Einflusses des hormonellen Umfelds negativ ist). Angenommen, Mike konsumiert täglich seine vollen 2000 kcal in Form von Nudeln, Reis und Kartoffeln. (Natürlich gibt es wohl kaum jemanden, der sich ausschließlich von Stärke ernährt, außer vielleicht im Rahmen eines Selbstexperiments). Obwohl dieses Beispiel etwas unrealistisch ist, dient es unserem Argumentationszweck. Zusätzlich zu seiner einseitigen Ernährung ist Mike auch sportlich aktiv. Sein täglicher Kalorienbedarf beläuft sich auf 2500 kcal. Folglich befindet sich Mike bei einer Aufnahme von unter 2500 kcal in einem Kaloriendefizit (negative Kalorienbilanz). Sein Kalorienverbrauch übersteigt seine Kalorienaufnahme um 500 kcal. In diesem Szenario hat Mikes Körper keine andere Wahl, als auf seine eigenen Energiereserven zurückzugreifen, unabhängig davon, wie die Energie zuvor verwertet wurde. Selbst wenn sie vollständig in die Fettdepots eingelagert wurde, müssen diese als einzige Quelle für die benötigte Energie dienen, da laut unserer Annahme keine weitere Energie aus der Nahrung gewonnen werden kann. Dies entspricht dem Beispiel mit der Werkshalle und den Maschinen, bei dem täglich Bauteile aus dem Lager entnommen werden, bis es schließlich leer ist. Somit widerlegt dieses einfache Gedankenexperiment die alleinige Gültigkeit der Kohlenhydrat-Insulin-Theorie. Als Wissenschaftsnerds geben wir uns jedoch nicht so leicht zufrieden. Deshalb kommen jetzt die Fakten auf den Tisch! Wie gut, dass es zu dieser Fragestellung gute Forschung gibt. Und genau das ist das Wunderbare an der Wissenschaft. Selbst die abwegigsten Annahmen und Theorien können empirisch überprüft werden, solange sie nicht völlig unbeweisbar sind, wie zum Beispiel die Existenz eines fliegenden Spaghettimonsters. Dies ist einer der Gründe, warum die Wissenschaft so faszinierend ist. Idealerweise erfolgt die Überprüfung durch randomisierte kontrollierte Studien (RCTs). Auch zur Kohlenhydrattheorie gibt es eine beträchtliche Menge an Forschung. Der Wissenschaftler Kevin D. Hall und sein Kollege Juen Guo haben sich genau dieser Fragestellung angenommen: Ob eine erhöhte Kohlenhydrataufnahme zu einem verringerten Energieverbrauch und einer geringeren Fettverbrennung führt [1]. Dabei haben sie 32 RCTs untersucht, in denen Probanden eine kalorienreduzierte Diät durchführten und strenge Ernährungspläne einhielten. Bei der Intervention wurden Gruppen mit hohem Kohlenhydrat, aber niedrigem Fettanteil bzw. Gruppen mit niedrigem Kohlenhydrat, aber hohem Fettanteil miteinander verglichen. Um verzerrende Faktoren auszuschließen, wurden sowohl die Gesamtkalorienzufuhr als auch der Proteinanteil der Nahrung in den einzelnen Gruppen gleich gehalten. Ein Teil der Probanden hat demnach eine „Low-Carb-High-Fat-Diät (LCHF), ein anderer Teil eine „Low-Fat-High-Carb-Diät“ (LFHC) durchgeführt. Wie bereits erwähnt, waren der Kalorien- und Proteinanteil der Mahlzeiten zwischen den Gruppen konstant. Somit lassen sich Unterschiede in den Studienergebnissen höchstwahrscheinlich auf die Verteilung von Kohlenhydraten und Fetten in der Nahrung zurückführen. Und was ergab die Auswertung? Gemäß der Hypothese, dass Kohlenhydrate zu Gewichtszunahme führen, hätte die Gruppe mit geringem Kohlenhydratanteil deutlich mehr Gewicht verlieren müssen. Hat sie aber nicht! In Bezug auf den Fettabbau gab es praktisch keinen Unterschied zwischen den Gruppen. Tatsächlich war der Fettabbau in den Gruppen mit einem hohen Kohlenhydratanteil im Vergleich zu den Gruppen mit einem hohen Fettanteil sogar statistisch signifikant! Allerdings ist eischränkend darauf hinzuweisen, dass dieser Effekt so gering war, dass er keine klinische Relevanz besaß. Dennoch – würde die Insulin-Hypothese stimmen, müsste das Ergebnis eher andersherum ausfallen. Wir können also feststellen, dass diese Annahme nicht haltbar ist. Die Forschung aus einer Vielzahl von Studien spricht dagegen. Nun werfen wir einen Blick auf den Stand der Forschung zur "Keine-Kohlenhydrate-am-Abend-Hypothese". Auch hier können wir wieder auf unsere vorherigen Überlegungen zurückgreifen. Wenn wir uns in einem chronischen Energiedefizit befinden, muss unser Körper sich aus seinen vorhandenen Energiespeicher bedienen, komme was wolle! Doch könnte uns in diesem Szenario Insulin noch einen Strich durch die Rechnung machen? Tatsächlich verringert eine kohlenhydratreiche Mahlzeit am Abend die Insulinsensitivität unserer Zellen. Das wurde in Studien belegt. Was bedeutet das? Je empfindlicher eine Zelle auf Insulin reagiert, d. h. je sensitiver die zelluläre Reaktion auf Insulin ist, desto schneller kann die Glukose (das Stoffwechselendprodukt der Kohlenhydrate) von den Zellen aufgenommen werden. Nachts funktioniert dieses System jedoch weniger effizient als tagsüber. Aha, also doch! Die Kohlenhydrate verweilen länger im System, was bedeutet, dass wir weniger effizient abnehmen können. „JETZT HAST DU DIR SELBST INS BEIN GESCHOSSEN, DU WISSENSCHAFTSGENIE!“ Puh, ich muss zugeben, das könnte schwierig werden, aus dieser Nummer wieder herauszukommen. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit einzulenken und zuzugeben, dass die Kritiker der Kohlenhydrate recht hatten… Zumindest was den Konsum am Abend betrifft. Aber Moment, da fällt mir noch etwas ein. Ein einzelner plausibler Wirkmechanismus allein sagt noch nichts über das tatsächliche Ergebnis in der Praxis aus. Die entscheidende Frage lautet daher: Gibt es ein Experiment, das diesen Mechanismus untersucht hat und treten dabei die vermuteten Auswirkungen tatsächlich ein? Ja, ein solches Experiment gibt es. In einer RCT aus Israel wurden 78 übergewichtigen Probanden in zwei Gruppen aufgeteilt [4,5]. Beide Gruppen erhielten über den Tag eine identische Gesamtmenge an Kalorien (1300–1500). Der Anteil der Makronährstoffe war zwischen den Gruppen wie in der zuvor genannten Untersuchung identisch (20% Protein, 30-35% Fett und 45-50% Kohlenhydrate). Der wesentliche Unterschied zwischen den Gruppen bestand darin, dass die Kontrollgruppe ihre Kohlenhydrate über den Tag verteilt konsumierte, während die Testgruppe einen Großteil ihrer Kohlenhydrate hauptsächlich in den Abendstunden zu sich nahm. Nach 6 Monaten wurde der Gewichtsverlust sowie das hormonelle Umfeld beider Gruppen miteinander verglichen - und siehe da! Die Testgruppe verlor insgesamt mehr Körpergewicht und Körperfett, konnte ihren Hüftumfang stärker reduzieren und wies eine höhere Durchhaltequote bei der Diät auf im Vergleich zur Kontrollgruppe. Darüber hinaus war das hormonelle Umfeld in der Testgruppe ebenfalls günstiger als in der Kontrollgruppe. Lass uns die einzelnen gemessenen hormonellen Werte nun etwas genauer betrachten. Zunächst werfen wir einen Blick auf Leptin, ein Hormon, das hauptsächlich von den Fettzellen produziert wird. Es ist wichtig zu wissen, dass Leptin während Diäten aufgrund der reduzierten Nahrungsaufnahme im Allgemeinen abnimmt und in dieser Zeit zu einem verminderten Sättigungsgefühl führt. In beiden Gruppen war ein ähnlicher Trend des absinkenden Leptinspiegels zu erkennen. Jedoch fiel bei denen, die abends verstärkt Kohlenhydrate zu sich nahmen, der Leptinspiegel besonders stark in den Abendstunden ab. Dennoch schien ihr Sättigungsgefühl zu keiner Tageszeit beeinträchtigt zu sein, im Gegensatz zu den Personen, die kontinuierlich Kohlenhydrate konsumierten. Wie lässt sich das erklären? Die Autoren vermuten, dass es mit den Leptinspiegeln während des Tages zusammenhängt. Diese waren in der Testgruppe höher, was das verringerte Hungergefühl tagsüber erklären könnte. Da der Leptinspiegel erst kurz vor dem Abendessen rapide absank, machte sich sein hungersteigernder Effekt wohl gar nicht bemerkbar. Diese Erkenntnis ist durchaus überraschend und bietet interessante Einblicke.
Vergleich der Leptinspiegel zwischen Kontrollgruppe (links) und Testgruppe (rechts) im Tagesverlauf;
Datenpunkte Dreieck = Tag 0, Datenpunkte Kreis = Tag 180 (Sofer et al., 2012)
Auch bei der Betrachtung eines weiteren Hormons wird es spannend: Das Hungerhormon Ghrelin wird in Zeiten akuten Nahrungsmangels produziert und steigert das Hungergefühl. In Bezug auf die Ghrelinspiegel hatte die Testgruppe (Kohlenhydrate am Abend) im Vergleich zur Kontrollgruppe (Kohlenhydrate über den Tag verteilt) deutlich höhere Werte. Die Ghrelinspiegel waren in der Testgruppe insbesondere in den Abendstunden erhöht. Nach dem Gesetz der Logik würde man erwarten, dass die Testgruppe hungriger ist als die Kontrollgruppe - mehr Ghrelin bedeutet mehr Hunger. Doch das Gegenteil war der Fall! Wie lässt sich das erklären? Eine mögliche Erklärung wäre, dass sinkende Ghrelinspiegel am Nachmittag den geringeren Hunger in der Testgruppe erklären könnten. Abends wurde ohnehin eine Mahlzeit eingenommen, weshalb ein Anstieg des Ghrelins keine Auswirkungen mehr hatte. Auf der anderen Seite wies die Kontrollgruppe trotz niedrigerer Ghrelinspiegel höhere Insulinspiegel auf! Das ist jedoch keine Überraschung, da nach dem Verzehr von Zucker und Kohlenhydraten Insulin freigesetzt wird. Untersuchungen haben gezeigt, dass ein erhöhter Insulinspiegel mit einem niedrigen Ghrelinspiegel korreliert und umgekehrt. Im Klartext: Hohe Insulinspiegel reduzieren den Hunger, während niedrige Insulinspiegel ihn erhöhen!
Vergleich der Ghrelinspiegel zwischen Kontrollgruppe (links) und Testgruppe (rechts) im Tagesverlauf;
Datenpunkte Dreieck = Tag 7, Datenpunkte Kreis = Tag 90 (Sofer et al., 2012)
Nun zum Thema Insulinsensitivität. Insgesamt verbesserte sich die Insulinsensitivität in der Testgruppe stärker als in der Kontrollgruppe. Zwar war die Insulinempfindlichkeit in den Abendstunden nach einer reichhaltigen Kohlenhydrataufnahme vorübergehend schlechter, jedoch war sie am Morgen aufgrund der nächtlichen Fastenperiode wieder besser. Die generell verbesserte Insulinsensitivität innerhalb der Testgruppe könnte darauf zurückzuführen sein, dass ein Großteil der Kohlenhydrataufnahme zu einem einzigen Zeitpunkt des Tages erfolgte. Der Grund dafür ist, dass Zellen empfindlicher auf Insulin reagieren, je länger sie keinen Kontakt damit hatten. In diesem Kontext möchte ich abschließend ein weiteres Hormon erwähnen, das den Hunger beeinflusst: Adiponektin. Studien zeigen, dass die Freisetzung von Adiponektin die Insulinsensitivität der Zellen verbessert. Auch die Auswertung dieser Studie bestätigte dies, jedoch nur in einer der beiden Gruppen. Und erneut war es die Testgruppe, in der Adiponektin erhöht war, was den positiven Einfluss auf das Insulin erklären könnte. Das war nun wirklich alles. Bitte entschuldige die lange Ausführungen über Hormone und ihre komplexen Interaktionen im Körper. Ich hoffe, ich habe nicht zu viel Verwirrung gestiftet. Hier ist noch einmal die Kurzfassung. Basierend auf den Ergebnissen dieser Studie lässt sich zweifelsohne feststellen, dass trotz des Konsums von Kohlenhydraten in den Abendstunden nahezu alle Gesundheitsparameter im direkten Vergleich verbessert wurden. Natürlich stellen diese Erkenntnisse noch keinen abschließenden Beweis oder Leitfaden für allgemeine Diätempfehlungen dar. Andere Studien, die den Vergleich zwischen LFHC (wenig Fett, viele Kohlenhydrate) und LCHF (wenig Kohlenhydrate, viel Fett) untersuchten, kommen teilweise zu unterschiedlichen Ergebnissen [1,3,6]. Allerdings standen nicht immer explizit übergewichtige Probanden im Mittelpunkt des Interesses. Besonders die Untersuchung von Sofer et al. verdeutlicht jedoch die Vielfalt des menschlichen Organismus. Die Studie zeigt eindrucksvoll, dass allein auf plausiblen Wirkmechanismen basierende Erklärungen nicht ausreichen, um komplexe Zusammenhänge angemessen zu erfassen. Wie wir anhand der Hormone Leptin, Ghrelin, Insulin und Adiponektin gesehen haben, lässt sich aus den gemessenen Hormonspiegeln im Vorfeld keineswegs ein Schluss auf die tatsächliche Wirkung im Organismus ziehen. Das würde der hochkomplexen Natur des menschlichen Körpers nicht gerecht werden. Ich hoffe, meine Erläuterungen konnten dazu beitragen, den Mythos des Dickmachers Kohlenhydrate ein für alle Mal zu entkräften.
Fazit: kohlenhydrathaltige Lebensmittel sind nicht automatisch die Ursache von Übergewicht und stehen einer erfolgreichen Diät nicht im Wege, egal ob tagsüber oder am Abend. Doch spannend wird es, wenn wir uns den Feinheiten zuwenden. Das hormonelle Umfeld kann durchaus einen gewissen Einfluss auf den Diäterfolg haben, wie wir gerade besprochen haben. Dennoch ändert dies nichts an den grundlegenden Zutaten für eine erfolgreiche Diät. Die Basis bleibt unsere altbewährte Kalorienbilanz. Erst im nächsten Schritt erfolgt die Feinabstimmung, wie die Auswahl passender Lebensmittel, die Verteilung der Makronährstoffe oder der ideale Zeitpunkt für die Nahrungsaufnahme. Die Furcht vor Kohlenhydraten ist in den meisten Fällen also unbegründet. Gerade für Sportler stellen sie eine wertvolle Energiequelle dar, die für die sportliche Leistungsfähigkeit unverzichtbar ist. Abschließend möchte ich all denen, die skeptisch gegenüber Kohlenhydraten und Insulin eingestellt sind, nur eines sagen: Genießt eure Kohlenhydrate in vollen Zügen. Ich wünsche guten Appetit!
Quellen:
1. Bueno, NB., de Melo, ISV, de Oliviera, SL & da Rocha Ataida, T. (2013). Very-low-carbohydrate ketogenic diet v. low-fat diet for long-term weight loss: a meta-analysis of randomised controlled trials. British Journal of Nutrition, (110), 1178-1187.
2. Hall, KD. & Juen, G. (2017). Obesity Energetics: Body Weight Regulation and the Effects of Diet Composition. Gastroenterology, 152 (7), 1718-1727.
3. Mansoor, N., Vinknes, KJ., Veierod MB. & Retterstol, K. (2015). Effects of low-carbohydrate diets v. low-fat diets on body weight and cardiovascular risk factors: a meta-analysis of randomised controlled trials. British Journal of Nutrition, (115), 466-479
4. Sofer, S., Eliraz, A., Kaplan, S., Voet, H., Fink, G., Kima, T. & Madar, Z. (2011). Greater Weight Loss and Hormonal Changes After 6 Months Diet With Carbohydrates Eaten Mostly at Dinner. Obesity, 19 (10), 2006-2011.
5. Sofer, S., Eliraz, A., Kaplan, S., Voet, H., Fink, G., Kima, T. & Madar, Z. (2012). Changes in daily leptin, ghrelin and adiponectin profiles following a diet with carbohydrates eaten at dinner in obese subjects. Nutrition, Metabolism & Cardiovascular Diseases, 23 (8), 744-750.
6. Yang, Q., Lang, X., Li, W. & Liang, Y. (2021). The effects of low-fat, high-carbohydrate diets vs. low-carbohydrate, high-fat diets on weight, blood pressure, serum liquids and blood glucose: a systematic review and meta-analysis. European Journal of Clinical Nutrition (76), 16-27.
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